Haeckel zitiert Rinecker
Rineckers Pharmakologie-Vorlesung um 1850, zitiert von Ernst Haeckel
Den Medizinstudenten Ernst Haeckel beeindruckte Franz von Rineckers pharmakologische Vorlesung, über die er seinen Eltern in einem Brief vom 16. 11. 1853 ausführlich berichtete:
"Die materia medica oder Heilmittellehre höre ich bei einem gewissen Rinecker. Das einzige Gute an dem Kolleg ist, daß es sogleich in der ersten Stunde vollkommen geeignet ist, dem künftigen Arzt vollständig alle ... Illusionen zu vertreiben, die er sich etwa über seinen künftigen Beruf als Messias der leidenden Menschheit, über die Medizin als Kunst zu heilen, machen könnte. Herr Rinecker erklärt gleich bei Eröffnung des Kollegs mit einer wirklich erstaunlichen ... Offenheit, daß sich doch niemand einbilden möge, die Ärzte seien dazu da oder beschäftigten sich damit, die Zahl der Krankheiten zu vermindern und sie zu vertreiben. Im Gegenteil, je höher die Medizin rationell steige, desto mehr vermehrten und vergrößerten sie sich. Die ganze Behandlung der Kranken sei eigentlich nur ein ganz unsystematisches Experimentieren, ein irrationales Versuchen mit dem menschlichen Organismus, ein unnützes und wenigstens sehr zweideutiges Probieren, Hin- und Herraten usw. "Geht´s mit dem Mittel nicht, geht´s mit dem!" usw. Dabei erzählt er die gräulichsten Zoten und Geschichten, wie junge, nicht ganz sattelfeste Ärzte durch unüberlegte Dosen gesunde Leute krank und unglücklich gemacht haben, kurz, daß mein Herz und Gewissen schlägt, wenn ich daran denke."
In einem weiteren Brief am 4. 12. 1853 über dieselbe Vorlesung berichtet Haeckel seiner Mutter, Rinecker beginne "fast jede Stunde mit einer ähnlichen Apostrophe wie die folgende, fast wörtlich nachgeschriebene:
Meine Herren! Wir kommen heute zur konstitutionellen Anwendung des Quecksilbers! Auch hier, wie überall in der Heilmittellehre, fehlt es durchaus an bestimmten Vorschriften und an gewissen Erfahrungen über die Anwendung, den Gebrauch und Nutzen desselben. Jeder Arzt macht sich vielmehr seine Regeln erst selbst und probiert erst an seinen Kranken heraus, wieviel von dem und dem er geben kann, ohne die Krankheit bis zum Tode zu verschlimmern. Ja, meine Herren, das ist grade das Schöne und Anziehende an der ärztlichen Kunst, daß sie so ganz ohne feste und allgemeingültige Basis, Regel und Ordnung dasteht, daß jeder Arzt seine Kranken behandeln und ruinieren kann, wie es ihm beliebt. Gäbe es ein corpus materiale medicinae ... wonach jeder Arzt seine Kranken unfehlbar kurieren könnte, dann möchte ich um Himmels willen beileibe kein Arzt werden; das wäre wirklich langweilig und die Krankheiten verschwänden am Ende ganz oder vielmehr die edle Zunft der Ärzte, weil dann jeder Kranke nach solchen allgemeinen Vorschriften sich selbst heilen könnte! Aber so! Wie schön ist das! Kein Arzt kann den andern zur Rechenschaft ziehen, da nie zwei oder drei über eine Behandlungsweise einig sind, sondern jeder auf seine Faust kuriert. Der eine gibt das, der andre das! Man schreibt ellenlange Rezepte, welche nach etwas aussehen und im besten Falle nichts schaden, und schließlich, wenn der Kranke trotz der Apotheke durch seine eigne Naturheilkraft wieder gesund wird, wer hat die Ehre und den Nutzen davon? - Allein der Arzt, der doch im Grunde meistens nicht weiß, mit was für einer Krankheit er es zu tun hat, was er geben soll usw. Ist so die Arzneikunst nicht eine schöne Wissenschaft?!"