in Haeckels Worten
Virchows Vorlesung, in der Schilderung durch seinen Schüler Ernst Haeckel
Virchows Würzburger Student und Assistent Ernst Haeckel beschrieb am 16.11. 1853 in einem Brief an seinen Vater die Pathologievorlesung seines berühmten Lehrers:
"Das Hauptkollegium in diesem Semester ist die allgemeine pathologische Anatomie bei Virchow weswegen (sowie wegen der Sezieranstalten) ich auch allein hier geblieben bin.
Dies Kolleg ist so einzig in seiner Art ... Es behandelt größtenteils Sachen, die noch gar nicht gedruckt und von Virchow selbst erst neu entdeckt sind. Aus diesem Grund ist auch der Andrang dazu ein ganz ungeheurer. Der sehr große, amphitheatralische Hörsaal mit weit über 100 Plätzen ist vollständig gefüllt. Während die anderen Kollegien meist periodisch geschwänzt werden, sucht hier jeder womöglich auch nicht einmal zu fehlen, weil er hier Dinge hört, die er sonst nirgends erfährt und liest.
Trotzdem aber fast alle hier anwesenden Mediziner das Kolleg fleißig besuchen, möchte ich doch dreist behaupten, daß kaum der 10. Teil ihn nur einigermaßen versteht. Wenigstens gilt dies von der überschwenglich philosophischen Einleitung, die er jetzt gegeben hat, und die das Phänomen des Lebens, der Krankheit und des Todes behandelt. Der Vortrag Virchows ist nämlich schwer, aber außerordentlich schön; ich habe noch nie solche prägnante Kürze, gedrungene Kraft, straffe Konsequenz, scharfe Logik und doch dabei höchst anschauliche Schilderung und anziehende Belebung des Vortrags gesehen, wie sie hier vereinigt sind.
Aber andererseits ist es auch, wenn man nicht gespannteste Aufmerksamkeit, eine gute philosophische und allgemeine Vorbildung mitbringt, sehr schwer, ihm ganz zu folgen, den roten Faden, der doch so schön durch alles hinzieht, zu behalten; namentlich wird das klare Verständnis erschwert durch seine Masse dunkler, hochtrabender Ausdrücke, gelehrter Anspielungen, allzu häufigen Gebrauch von Fremdwörtern, die oft überflüssig sind usw. Die meisten Kommilitonen schauen nur starr und wie vernichtet dieses Wunder an; freilich fällt von so einem Reichtum für jeden ein Bissen ab; aber wieviel Kleinodien gehen da verloren.
Mir selbst wird es nur mit der größten Anstrengung und auf eine Weise möglich, das in der Stunde mit fast stenographischer Eile ... Wort für Wort fast sinnlos und mechanisch Nachgeschriebene nachher einigermaßen zu ordnen, zu verdauen und anzueignen. Ich setze mich nämlich, sowie ich um 5 Uhr aus dem Kolleg komme, hin und suche mit Anspannung aller mir zu Gebote stehenden Geisteskräfte durch sorgsames Durchdenken und Ausarbeiten des empfangenen Stoffs mir Verständnis und Vertrautheit mit diesem Reichtum tiefer Gedanken zu erwerben. Freilich kostet das viel Schweiß und Zeit; unter 3-4 Stunden werde ich nicht mit der einen Stunde fertig, und oft kaue und verdaue ich den ganzen Abend bis um 11 daran."