Mikroskopie
Virchow und das Mikroskop
Virchow unterschied zwischen der diagnostischen und wissenschaftlichen Bedeutung des Mikroskops. Letztere erschien ihm als Grundlagenforscher wichtiger:
"Denn man muß sich das klar machen, daß es außer der angewendeten (diagnostischen) eine wissenschaftliche Mikroskopie gibt, und daß diese letztere es ist, welche das Urteil endgültig bestimmen muß. In der Entwicklung der Medizin wird es am Ende darauf ankommen, ob das Mikroskop nur ein diagnostisches oder ein wirklich reformatorisches Mittel war."
Um mit dem Mikroskop die Medizin zu reformieren, muß man nach Virchow "mikroskopisch denken" lernen:
"Nur wenige sind soweit gekommen, daß sie wirklich mikroskopisch denken gelernt haben, und das ist es eben, was wir verlangen. Für die meisten, namentlich der älteren Ärzte ist es mit der Mikroskopie, wie mit einer fremden Sprache, wo man freilich fremde Wörter gebraucht, aber in der eigenen Sprache denkt. Es ist für sie etwas Fremdes, das sie nur gebrauchen ... zur Diagnose, ... als dem einzigen praktischen Gesichtspunkte."
Den Wert des Mikroskopes für die Diagnostik schätzte Virchow erstaunlicherweise gering:
"Wie ich ... schon vor so langer Zeit erklärt habe, besitzt das Mikroskop nicht den diagnostischen Wert, den man vorausgesetzt hatte. Ich will damit nicht sagen, daß es keinen oder auch nur einen geringen Wert bei der Feststellung der Diagnose habe, allein ... es keineswegs nötig ist, um diese oder jene Geschwulst als dies oder jenes zu erkennen, jedesmal das Mikroskop zu Hilfe zu nehmen. Auch ich glaube bei den meisten Geschwülsten, die zu Tage liegen, ohne mikroskopische Untersuchung eine zuverlässige Diagnose stellen zu können."
Bei dieser Einstellung wundert es zwar nicht, daß Virchow mit seiner Auffassung von der Tumorgenese gewaltig irrte. Insgesamt jedoch ist sein Einfluß auf die Ausbreitung der wissenschaftlichen Mikroskopie, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert unglaubliche Triumphe feierte, kaum zu überschätzen. Virchow sah voraus, "daß unsere Anschauungen um ebensoviel vorrücken, als sich unsere Sehfähigkeit durch das Mikroskop erweitert hat", und postulierte: "Die gesamte Medizin muß den natürlichen Vorgängen mindestens um dreihundertmal näher treten." Anschaulich verglich er die Bedeutung des Mikroskops für den Biologen mit der des Teleskops für den Astronomen:
"Denke man sich nur einen Augenblick in die Stelle eines Astronomen. Dieser ist ja in allem das umgekehrte von einem Biologen. Wie die Biologie mikroskopisch, so ist die Astronomie teleskopisch. Was würde man heutzutage von einem Astronomen sagen, der kein Teleskop zu handhaben verstände, oder vielmehr, wie könnte man überhaupt nur jemand als einen Astronomen bezeichnen, der nicht die sorgfältigste Erforschung des Himmels vermittelst seiner Vergrößerungsgläser angestellt hätte! Allerdings sieht man Sonne, Mond und Sterne ... auch mit bloßem Auge, allein bekommt man auch nur die entfernteste Vorstellung von dem Wesen dieser Dinge, wenn man sich auf die Betrachtung mit bloßem Auge beschränkt? Löst sie nicht der Astronom ... in eine große Zahl teleskopischer Bilder auf? Derselbe Mond, dieselben Sterne, ... die jedermann wahrnimmt, werden für den Astronomen etwas ganz anderes, als für den einfachen Betrachter... Unter dem Mikrokop des Biologen (bzw. Pathologen) ... löst sich alles Lebende in kleine Elemente auf, die ... einen so feinen Bau besitzen, daß eine deutliche Einsicht in denselben ohne mikroskopische Anschauung ganz und gar unmöglich ist."
Mit dem Blick durch das Mikroskop erkannte Virchow, "daß diese kleinen Elemente, die Zellen, die eigentlichen Herde des Lebens und demnach auch der Krankheit, die wahren Träger der lebendigen, pflanzlichen oder tierischen Funktion sind, an deren Existenz das Leben gebunden ... ist."
Mit der Konzeption der Zellularpathologie verwirklichte Virchow seinen Anspruch, das Mikroskop als "reformatorisches Mittel" zu nutzen, in hervorragender Weise. Zahlreiche Schüler seines einzigartigen Würzburger Mikroskopierkurses lernten bei ihm "mikroskopisches Denken" und entwickelten sich zu prominenten "Medizinreformern".