Zelltumoren
Virchow irrt bei Zelltumoren
Während Virchows Berliner Kollege und Konkurrent Robert Remak schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts Karzinome als Umbildung ortsständigen Epithels interpretierte, hielt Virchow sie für Abkömmlinge von sog. Bindegewebskörperchen. Deswegen können Karzinome seiner Meinung nach nur tief im Bindegewebe entstehen und nicht vom Oberflächenepithel ausgehen, obwohl ihm z.B. bei Papillomen die deutliche Zellvermehrung in der Deckschicht nicht entgangen war. Folgerichtig hielt er oberflächliche Zellproliferationen grundsätzlich für gutartig.
Auch mit seinen Überlegungen zur Genese von Metastasen, die er z.B. im Knochen oder Lymphknoten beobachtete, befand sich Virchow auf dem Holzweg. Er vermutete, daß die Zellen des Primärherdes einen "krankhaften Saft" bilden, der über die Blutbahn entfernte Körperregionen erreicht und die ortsständigen Bindegewebszellen "katalytisch-contagiös" proliferieren und dem Primärherd ähnlich werden läßt. Dementsprechend hielt Virchow saftreiche Karzinome für besonders bösartig und metastasenbildend.
Nach Virchow ist dieser "krankhafte Saft" nicht nur für Metastasen verantwortlich, sondern auch für das Wachstum des Primärtumors. Dieser vergrößert sich seiner Meinung nach nicht etwa durch Proliferation ortsständiger Krebszellen. Entscheidend dafür ist vielmehr die Proliferation von umgeprägten benachbarten Zellen wegen humoraler Induktion durch besagten "krankhaften Saft".
Die ortsständigen Zellen spielen für Virchow also eine untergeordnete Rolle in der Tumorgenese. Deswegen ist es auch von keinem großen Interesse, sie sich genauer anzusehen. Entsprechend verzichtet er auf eine detaillierte zytologische Tumordifferenzierung. Virchow hält das Mikroskop in der Tumordiagnostik für entbehrlich und scheut sich nicht, diese Überzeugung sogar in einem Leitartikel seines "Achiv für pathologische Anatomie" zu verkünden.
Diese im krassen Gegensatz zur heutigen Praxis stehende Fehleinschätzung will so gar nicht zu Virchows immer wieder erhobener Forderung passen, die Pathologen müßten lernen, zellulär und mikroskopisch zu denken. Der Irrtum überrascht auch deswegen, weil die Tumoren eigentlich ein Musterbeispiel für die zentrale These der von Virchow formulierten Zellularpathologie sind, derzufolge die Zelle der Sitz der Krankheit ist.
In die Irre führte Virchow wahrscheinlich, neben einer Vernachlässigung des offenkundigen mikroskopischen Tumorbefundes, eine mangelnde gedankliche Trennung von der auf Theodor Schwann zurückgehenden Vorstellung der Zellbildung aus einem formlosen Blastem, die möglicherweise bei Virchows Vorstellung vom Bindegewebe als Mutterboden aller zellulären Neubildungen gedanklich Pate stand.