Zellularpathologie
Virchow konzipiert die Zellularpathologie
Bei seiner Ankunft in Würzburg 1849 glaubte Virchow noch an die Schwann´schen Theorie der Bildung neuer Zellen aus einer amorphen Masse. In den 7 folgenden Würzburger Jahren konzipierte er die Zellularpathologie. In den Jahrzehnten nach seiner Rückkehr an die Charite 1856 verbreitete er die neue Lehre und wurde weltberühmt.
Die Zellularpathologie kombiniert die schon von Vorgängern vermutete These der Abstammung der Zellen ausschließlich von anderen Zellen mit der Erkenntnis der grundsätzlich zellulären Organisation des (menschlichen) Körpers. Der erste Teil (Sukzessionslehre) lieferte mit dem berühmten Motto "omnis cellula e cellula" den Schlachtruf für das ganze Konzept. Der zweite Teil wog schwerer, indem er die Zelle als kleinste lebende Einheit des Organismus definierte - analog zum Atom, das ungefähr zeitgleich als kleinste unteilbare Einheit der Materie erkannt wurde - und damit zur Grundlage allen ärztlichen Denkens und Handelns machte, und zwar, wie man damals glaubte, "für alle Zeiten".
Die Zelle war für Virchow das "letzte eigentliche Form-Element aller lebendigen Erscheinung". Er fand in ihr das einheitliche Prinzip, das allen Lebensvorgängen zugrunde liegt, ihren natürlichen Äußerungen ebenso wie ihren krankhaften. Sie ist somit das Fundament der von ihm propagierten, naturwissenschaftlichen Krankheitslehre.
"... die Krankheit hat keine andere Einheit als das Leben, von dem sie eine besondere Art darstellt, nämlich die einheitlich lebende Zelle. Sie ist gewissermaßen die Person des Lebens im Gesunden sowohl als auch im Kranken, und wenn Paracelsus vorahnend von einem Leib der Krankheit gesprochen hat, so können wir jetzt sagen, die Zelle sei dieser Leib."
Die tiefe Einsicht, mit der Praktiker wie Billroth jedoch zunächst nicht viel anzufangen vermochten, verdankte Virchow seiner unermüdlichen Mikroskopie. Er gewann sie jedoch nicht etwa bei der Beschäftigung mit Tumoren, wo sie mit Händen zu greifen war, sondern an einem dafür eher untauglichen Objekt, nämlich Bindegewebe, vor allem Knorpel und Knochen. Der Gang seiner Erkenntnis läßt sich aus seinen diversen Äußerungen und Publikationen gut rekonstruieren:
- 1852: Virchow liebäugelt erstmalig in einer Vorlesung mit dem strengen Abstammungsprinzip.
- 1853: Virchow forciert in seinen Vorlesungen die Zellentheorie und überzeugt den Studenten Haeckel.
- 1954: Virchow erklärt in seinem Pathologiehandbuch das Abstammungsprinzip zum wahrscheinlichsten Vermehrungsmodus.
- 1855: Virchow bekennt sich erstmalig ohne Vorbehalt zum Abstammungsprinzip in seinem berühmten Aufsatz über die Zellularpathologie (8. Band seines Archivs) und definiert es griffig als "omnis cellula a cellula".
- 1858: Virchow verkündet, nach Berlin zurückgekehrt, die Zellularpathologie in 20 Vorlesungen, die noch im gleichen Jahr veröffentlicht werden.
Virchow beendete mit seinem Konzept die Jahrtausende alte medizinische Kontroverse zwischen Humoral- und Solidarpathologie, deren beider Akzeptanz als übergeordnete Theorie unter der Flut neuer Erkenntnisse arg gelitten hatte, und ersetzte sie im Sinne einer Hegelschen Synthese durch ein modernes, die gesamte Medizin bzw. Biologie integrierendes Konzept.
Damit befriedigte die Zellularpathologie ein tiefes Bedürfnis der Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Angesichts einer beispiellosen Wissensvermehrung wegen zunehmender Spezialisierung in unterschiedlichste Forschungsrichtungen und einem Zerfall der alten humoralpathologischen Einheitslehre, sehnte sich die Medizin nach einem wieder geschlossenen Weltbild, um sich als sinnvolles Ganzes zu fühlen. Die Zellularpathologie erfüllte diesen Wunsch mit ihrer Definition der Zelle als morphologischer und funktioneller Lebenseinheit.
Die Zellularpathologie blieb viele Jahre eine verläßliche Basis ärztlichen Denkens und Handels und bremste als einheitliche, alle Einzeldisziplinen überwölbende Theorie ihr Auseinanderdriften. Nicht jedoch, wie man damals vorschnell glaubte, "für alle Zeiten". Mit dem Vorstoß auf subzelluläre Strukturen bis hin zur Molekularbiologie hat sich die Zelle als kleinste Einheit von Leben und Krankheit längst verflüchtigt und eine unübersichtliche Situation hinterlassen, die auf eine neue Einheitstheorie wartet.